Nicht riechen. Einfach essen.

Wenn ich das Wort "Bodenständig" höre denke ich unweigerlich an konservative Politiker in Bierzelten, die Volksmusik hören. Dementsprechend hört sich "Bodenständigkeit" für mich nach einem konservativen Kampfbegriff an, doch gehen wir mal ein wenig näher hin zu dessen Wurzeln. Offenbar handelt es sich um eine Metapher, etwas steht auf dem Boden, vermutlich auf dem metaphorischen Boden der Tatsachen. Das Gegenteil dazu ist wohl am Ehesten "Abgehoben", also ohne relevanten Kontakt zum Boden.

Während nun dieser Kampfbegriff genutzt wird, um schlechte Musik und gestrige Politik zu rechtfertigen, also im Wesentlichen, um eine Weiterentwicklung zu verhindern, fände ich die Einführung dieses Begriffes im Bereich der Software möglicherweise ganz sinnvoll. Im Unterschied zur Realität ist es im Bereich der Software erheblich einfacher, und erheblich weniger verpönt, Dinge zu verändern, es ist üblicherweise sogar notwendig. Die Frage darf also nicht dahin gehen, ob Veränderungen grundsätzlich gut sind, sondern, welche Veränderungen gut sind.

Und wie der konservative Politiker den Atomausstieg kritisch sieht, sehe ich die Wolkenisierung (mein persönlicher Begriff für das Bewegen in die Cloud, den ich an dieser Stelle prägen will) sehr kritisch. Die Probleme die sich mit der Wolkenisierung grundsätzlich ergeben sind bekannt und werden vielseitig diskutiert.


(via xkcd)

Dass ich nicht so ganz verstehe, warum jeder auf Wolkenisierung aus ist, ist sowieso ein ganz anderes Thema. Viel wichtiger ist aber, dass ich nicht sehe, was die große Neuerung an Wolkenisierung ist. Und hier bin ich wohl so schwer es mir fällt das zuzugeben vergleichbar mit obigen Politikern: Es steht eine Änderung bevor, jeder findet sie toll, aber was sie letztendlich an Vorteilen bringt sehe ich nicht. Viel schlimmer, ich sehe nicht einmal, was die Wolkenisierung an Neuerungen bringt.


(found at geek-and-poke, Creative Commons Attribution 3.0 Unported License)

Ich sehe beispielsweise durchaus eine Dezentralisierung von Webdiensten und eine redundante Verbindung vieler Server als positiv an, aber genau das sehe ich in der aktuellen Entwicklung nicht. Viel mehr sehe ich, dass Leute sich von klassischen E-Mails hin zum Oligopol von Gesichtsbuch und Konsorten zentralisieren, selbes gilt für dezentrale Dienste wie Jabber und IRC. Und selbst das dezentrale Web wird insofern zentralisiert, dass proprietäre Formate immernoch nicht ausgestorben sind. Eigentlich führt die Wolkenisierung eher zum Gegenteil des Cloud Computing, die Daten sind jetzt nicht mehr auf vielen kleinen PCs gespeichert, sondern auf einer zentralen (wenn auch vermutlich redundanten) Serverfarm gespeichert.

Hier kommt die Bodenständigkeit ins Spiel. Die wenigsten Neuerungen sind wirklich neu. Blogs gibt es schon lange, davor gab es Webseiten die man noch nicht Blogs nannte, die aber effektiv genau so funktionierten. Daten auf einen Server speichern, sodass man aus der Ferne auf sie zugreifen kann - kein Problem, dafür gibt es jede Menge an Protokollen, beginnend bei sowas Einfachem wie FTP, zumindest braucht man dafür keine wunderbaren neuen Web 2.0 Startups. Remote-Anwendungen kann man seit Jahrzehnten entweder per Remote-Shell, z.B. SSH, ausführen, oder, wenn man unbedingt Grafik will, per X-Forwarding. Natürlich hat das alles auch Nachteile, und man kann alles verbessern. Trotzdem sollte man Bodenständig bleiben.

Webanwendungen sind eine ganz nette Entwicklung der Neuzeit, aber auch im Wesentlichen, weil sie sich durchgesetzt haben. Wo es recht schwierig ist, einem Windows-User SSH und X-Forwarding beizubringen, hat er den Browser eben schon da. Mehr ist es nicht.

Und mehr ist es bei vielen neuen Entwicklungen nicht. Und das ist schade, denn wenn man bedenkt, was man heute alles kann, was früher unvorstellbar gewesen ist, und die Stagnation sieht, die uns jetzt durch Wolkenisierung offenbar bevorsteht. Eine Möglichkeit dem entgegenzuwirken ist, bodenständige Software zu verwenden.

Ich werde zum Beispiel häufig belächelt, weil ich BitlBee für mein Instant Messaging verwende. Es sei sehr rudimentär. Das ist wahr, und es hat auch ein paar Nachteile gegenüber Pidgin, aber diese Nachteile werden abgebaut (inzwischen kann man soweit ich das gelesen habe sogar schon Dateien übertragen und kriegt eine Skype-Anbindung). Als Frontend benutze ich Irssi. Beides sehr rudimentär, doch es hat vergleichbare Funktionalität mit den großen Clients. Bodenständigkeit ist das Zauberwort. Design kommt nach Funktionalität. Buttons kommen erst, wenn das CLI funktioniert. Und dann kommt die Desktop-Integration, die bei BitlBee natürlich erstmal komplett fehlt. Die ist aber auch das Letzte an das man denken sollte, erstmal muss der Rest gut genug funktionieren. Und bei BitlBee sieht man dass die Teile die es kann funktionieren.

Ein Negativbeispiel stellen diverse kommerzielle Softwareprodukte dar, insbesondere, wenn sie versuchen, Linux-Installer auszuliefern. Oft nutzen diese Installer irgendwelche Heuristiken, um Pfade und Einstellungen festzulegen. Anstatt zu versuchen, Software zu schreiben, die mit allen bekannten Situationen zurechtkommt, wäre die Zeit vielleicht besser investiert in das Erstellen von - bodenständigen - rpm und deb Paketen. Das ist nicht trivial, es erzeugt Probleme, aber wenigstens ist die Software dann kompatibel mit einer Standardinfrastruktur.